Mittlerweile ist es fast 6 Jahre her, dass ich die kleine Nairi auf ihrem Abenteuer durch die Oasenstadt Shirin begleiten durfte. Der putzige Mix aus Visual Novel und Point & Click hat mir damals viel Freude bereitet und nach dem Cliffhanger-Ende wollte ich natürlich wissen, wie es für sie und ihre tierischen Freunde weitergeht. Die Jahre vergingen und obwohl das Indie-Ehepaar von HomeBearStudio in dieser Zeit fleißig war, schwand allmählich die Hoffnung auf eine Fortsetzung. Doch das Warten war nicht vergebens, denn Rising Tide ist endlich da und im Grunde genau das geworden, was man sich von einer Fortsetzung erhofft hat. Bis auf eine kleine Sache, aber dazu komme ich später noch.
Nachfolgend gebe ich einen Überblick zur Handlung, aber da ich Spoiler unbedingt vermeiden will und ihr ohnehin unbedingt zuerst noch den Vorgänger nachholen solltet, werde ich nicht zu sehr ins Detail gehen.
Im Zentrum des Spiels steht auch diesmal wieder Nairi, die noch immer auf der Suche nach ihren Eltern ist. Die wurden im ersten Teil zum Opfer einer politischen Intrige, die sich bis in die höchsten Ebenen von Shirin zieht. In der Stadt, die sowohl von Menschen als auch anthropomorphen Tieren bewohnt wird, haben im Wesentlichen vier verschiedene Kräfte das Sagen. Über allem steht der König, zumindest theoretisch. In der Praxis ist es nämlich eher so, dass ihre Hoheit ziemlich einfältig ist und von den Vorgängen im Reich gar keine Ahnung hat. Daneben gibt es mit dem Pontifex auch noch einen religiösen Führer sowie zwei Räte. Letztere bilden gewissermaßen die Regierung und sollen sich gegenseitig kontrollieren. Während all dies im ersten Spiel nur angerissen wurde, bekommt man im Laufe von Rising Tide nun auch Einblicke in diese Machtspielchen hinter den Palasttoren. Dafür wird u.a. eine zweite Hauptfigur eingeführt, die Nairi-Fans bereits kennen: Shiro. Genau wie Nairi ist auch er ein Kind eines hohen Ratsmitglieds und auch er hat den Kontakt zu seiner Familie verloren. Allerdings wurde er quasi verstoßen und seine wahren Motive bleiben zunächst etwas mysteriös. Was zu einigen Spannungen führt, als er und Nairi gemeinsam nach einem Weg zurück in das gut gesicherte Regierungsviertel suchen.
Insgesamt findet Rising Tide eine gute Mischung aus neuen Charakteren, alten Bekannten und kuriosen Auftritten kleiner Nebenfiguren. Ein besonderes Highlight ist dabei erneut der ebenso faule wie liebestolle Lebemann Gunther. In einer absurden Schnitzeljagd verfolgt man ihn diesmal in seinen Unterschlupf, den er offensichtlich mit extrem viel Aufwand gebaut hat, nur um lästigen Dingen wie häuslichen Pflichten und wütenden Verwandten aus dem Weg zu gehen. Auch Abseits dieser Gag-Einlagen ist die Tonalität schon eher die eines fröhlichen, etwas kindlichen Abenteuers, das gute Laune verbreiten soll. Mehr noch als im Vorgänger gibt es dazwischen aber auch immer wieder ernste, nachdenkliche oder gar düstere Momente, die daran erinnern, was für Nairi und ihre Freunde auf dem Spiel steht.
Lesen ist Gold, Rätseln ist Silber
Auch spielerisch bleibt es bei der gewohnten Mischung aus Gesprächen, Erkundung und einfacheren Puzzle-Elementen. Die überwiegende Zeit des Spiels verbringt man mit dem Lesen von Dialogen, bei denen diesmal leider nicht nur auf eine Vertonung, sondern auch noch auf eine deutsche Übersetzung verzichtet wurde. Ein Umstand den ich persönlich gut verschmerzen konnte, da die Figuren nach wie vor recht liebenswert geschrieben sind und die Fortsetzung sogar ein wenig umfangreicher geworden ist. Was an sich schon eine Leistung ist, denn ich vermute stark, dass das Budget diesmal eher noch winziger war. Außerdem wurden die Gespräche auch wieder mit ebenso süßen wie ausdrucksstarken Porträts untermalt.
Auf dem Weg durch die Viertel der Stadt und ihre Nebenschauplätze, wie zum Beispiel die unterirdischen Kanäle und vergessenen Tempel, trifft man wieder auf allerlei Hürden, die es mit ein wenig Cleverness und einem wachsamen Auge zu überwinden gilt. Adventure-typisch sammelt man alles Mögliche ein und bringt es an anderer Stelle auf mehr oder weniger sinnvolle Weise zum Einsatz. Häufig sind das einfach nur simple Fetch-Quests, bei denen ein bestimmter NPC einfach dies oder das benötigt und man das Objekt eben ein paar Szenen weiter quasi vom Boden aufliest oder von einer anderen Figur ertauscht… oder „borgt“. Das ist zumeist recht einfach gehalten und dürfte selbst Point & Click-Neulinge kaum überfordern. Und wenn man doch mal auf dem Schlauch steht, dann hilft notfalls auch noch das integrierte Hilfe-System, das einem den nötigen Schubser in Richtung Lösung geben kann.
Zwischendrin gibt es aber auch immer mal wieder richtige Knobelpassagen, in denen Nairi sich plötzlich ganz allein in einer fremden und scheinbar ausgestorbenen Umgebung wiederfindet. In diesen „Puzzle-Dungeons“, wie sie das Dev-Duo selbst nennt, sind dann alle anspruchsvolleren Aufgaben gebündelt und der narrative Aspekt rückt für eine Weile in den Hintergrund. In einem Turm muss hier beispielsweise die Energieversorgung mit Hilfe von Teilstücken eines Leitungssystems und einem Fahrstuhl wiederhergestellt werden. An einer anderen Stelle muss man wiederum die verschiedenen Etagen und Räume eines alten Tempels durchstreifen. Wobei der Clou ist, dass es eine intakte und eine verfallene Version gibt und man muss immer wieder zwischen ihnen hin- und herwechseln. Das sorgte bei mir dann doch für einiges Kopfzerbrechen, aber mit viel Herumprobieren und ein paar grauen Haaren mehr habe ich die Dungeons dann doch ganz ohne Hilfe lösen können. Keine Sorge, falls das nach zu viel Stress klingt oder ihr eigentlich nur ganz entspannt der Handlung folgen möchtet. Das Spiel lässt euch diese Abschnitte bei Bedarf auch komplett überspringen.
Cute Heroes and Weirdos
Die wohl größte Stärke ist erneut der zauberhafte Look des Spiels. Wer sich für niedliche, kindgerechte Animes und insbesondere für Ghibli begeistern kann, der wird schnell dem Charme der liebevoll gezeichneten Figuren erliegen. Schon der erste Auftritt von Nairi war ein zuckersüßer Augenschmaus, aber diese Fortsetzung ist visuell sogar noch einen Tick hübscher geworden. Natürlich ist alles recht statisch und gerade die Ausdrücke der Hauptfiguren wiederholen sich im Laufe des Spiels sehr oft, aber es steckt spürbar jede Menge Herz drin und das ganze Team besteht eben nur aus zwei (!) Personen. Selbst der vergnügliche Soundtrack, der teils echtes Ohrwurm-Potential hat, wurde intern geschaffen.
Das einzige echte Problem dieser ansonsten sehr gelungenen Fortsetzung ist, dass es nun mal das Mittelstück einer zusammenhängenden Geschichte ist und am Ende erneut ein Cliffhanger wartet. Vermutlich wird es auch wieder einige Jahre dauern, ehe die Geschichte einen echten Abschluss findet. Doch so schade das auch sein mag, so sicher bin ich mir auch, dass sich das Warten wieder lohnen wird. Wenn ihr den ersten Teil mochtet, werdet ihr Rising Tide lieben und wenn ihr die Serie noch nicht kanntet, aber interessiert seid, dann gebt euch einen Ruck und schaut mal rein. Der Erstling kostet inzwischen nur noch 3,99 € (PC / Nintendo Switch).
Plattform: PC, Nintendo Switch
Release: 14. November 2024
Entwickler: HomeBearStudio
Publisher: Hound Picked Games
Genre: Visual-Novel, Adventure
Preis: 14,79 €
Meine Spielzeit: ca. 11h
*Für dieses Review hat mir der Publisher Hound Picked Games freundlicher Weise einen Review-Key zur Verfügung gestellt.