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Experimentell Indie Review / Test

Indie-Review: The Vanishing of Ethan Carter

screenshot the vanishing of ethan carter indie the astronauts teaser smallGenau wie das Spiel selbst waren auch meine ersten Spielminuten mit The Vanishing of Ethan Carter etwas Außergewöhnliches. Es war ein wahrhaft magischer Moment als ich in der Gestalt des Privatdetektivs Paul Prospero aus dem Dunkel eines Eisenbahntunnels heraustrat und meine ersten Schritte im Red Creek Valley machte. Vor mir lag ein virtuelles Waldstück das von solcher Schönheit war, dass ich eine kleine Ewigkeit nur damit verbrachte, mit großen Augen jeden Stein, jeden Baum und jeden Grashalm zu bewundern.

Doch das Werk des polnischen Indie-Studios The Astronauts, die früher an Titeln wie Bulletstorm und Painkiller arbeiteten, ist noch mehr als nur eine wegweisende Demonstration moderner Computertechnik.

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Natürlich seid ihr nicht ins Valley gekommen, um hier Urlaub zu machen, sondern weil ihr einen Job zu erledigen habt. Ihr seid auf der Suche nach Ethan Carter, einem Jungen, der hier in der Gegend aufgewachsen und nun verschwunden ist. Mehr erfahrt ihr zunächst nicht und zu Beginn des Spiels sagen euch die Entwickler sogar klipp und klar, dass man euch nicht an die Hand nehmen werde und ihr euren eigenen Weg finden müsst.

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Also erkundet ihr neugierig die Umgebung und entdeckt auf einer baufälligen Brücke eine alte Lok, mit viel Blut an der Seite. Ein Stückchen hinter der Lok findet ihr dann ein paar abgetrennte Beine und in unmittelbarer Nähe schließlich auch den übel zugerichteten Rest der Leiche. „Was mag hier wohl passiert sein“, denkt ihr euch? Nun, um das herauszufinden, müsst ihr die Objekte finden, die in der Szene von entscheidender Bedeutung waren und sie an ihren ursprünglichen Platz bringen.

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Viel nachdenken müsst ihr dabei aber leider nicht, denn eigentlich seid ihr doch nicht so ganz auf euch selbst gestellt, wie man zu Beginn noch so vollmundig angekündigt hatte. Wenn ihr nämlich etwas untersucht, dann nehmen euch die Entwickler einen großen Teil der sonst üblichen Denkarbeit kurzerhand ab. Statt euch einfach eure eigenen Vermutungen anstellen zu lassen, fliegen nämlich beim Untersuchen der Tatorte und Objekte plötzlich die Gedanken von Detective Prospero durchs Bild und sagen euch quasi, was Sache ist. Das wäre ja noch okay, aber selbst die Suche nach wichtigen Objekten – im Fall der Lok braucht ihr z.B. eine alte Kurbel – wird euch abgenommen, indem die Entwickler gezielt euren Blick in die Richtung des gesuchten Objektes führen und euch anschließend sogar ein Bild der Fundstelle zeigen. Das macht die Sache zwar deutlich entspannter, aber ich hätte es dennoch begrüßt, wenn man diese Hilfen optional gemacht hätte.

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Habt ihr schließlich die gesuchten Teile des Puzzles in Position gebracht, dann könnt ihr mit der eigentlichen Rekonstruktion der Ereignisse beginnen. Dazu markieren mehrere blaue Lichter die relevanten Punkte und verwandeln sich kurz darauf in geisterhafte Sequenzen, die es anschließend in die richtige Reihenfolge zu bringen gilt. Das ist nicht immer sofort zu erkennen, aber auch hier greift euch das Spiel ein wenig unter die Arme, so dass ihr nicht zu lange rätseln müsst. Passt dann alles, so bekommt ihr in einer Art Traumsequenz zu sehen, wie die Tat abgelaufen ist.

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Neben der Aufklärung der Morde warten außerdem noch einige Sequenzen auf euch, die der Fantasie des Jungen entsprungen sind und nicht nur deutlich abstrakter ausfallen, sondern auch allesamt etwas anders ablaufen. So verwandeln sich die Durchgänge eines alten Häuschens plötzlich in magische Portale und in einer dunklen Mine warten die Seelen gestorbener Seemänner auf ihre Erlösung. Wirklich gefordert werden erfahrene Adventure-Fans auch hier nicht, aber darum geht es auch gar nicht.

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The Vanishing of Ethan Carter ist kein klassisches 3D-Adventure, sondern vielmehr ein interaktiver Mystery-Thriller, in dem das Gameplay nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dafür bekommt ihr aber eine wirklich einzigartige Spielwelt geboten. Das malerische Red Creek Valley wurde mit einer schier unglaublichen Liebe zum Detail erschaffen und lädt zu einem unvergesslichen Spaziergang ein. Natürlich ist es genau genommen nur ein vergleichsweise kleines Areal und im Grunde läuft alles sehr linear ab, aber trotzdem gibt es viel zu entdecken. Damit sind jedoch keine belanglosen Collectibles oder irgendwelche anderen künstlichen Belohnungen gemeint. Wie bei einer echten Wanderung ist der Weg das Ziel und die vielen Eindrücke sowie teils atemberaubenden Bilder sind der Lohn für eure Mühen.

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Jeder Busch, jeder Baum und jeder Felsen dieses Tals wurde ganz bewusst platziert und nicht einfach nur als Füllmaterial in die Landschaft geworfen und das ist mit jedem eurer Schritte spürbar. Gleiches gilt für den hervorragenden Soundtrack, der oft dem Rauschen des Windes und dem Vogelgezwitscher die Bühne überlässt, nur um dann genau im richtigen Moment wieder für Gänsehaut zu sorgen.

In Zeiten von Achievements, Perks, Rängen und Co. dürfte The Astronauts Debüt-Titel bei vielen auf Unverständnis stoßen und die kurze Spielzeit von knapp 3-5 Stunden macht die Sache nicht besser. The Vanishing of Ethan Carter ist digitale Entschleunigung für Körper und Geist. Und nur wer sich dessen bewusst ist, wird auch die perfekt ausgearbeitete Spielwelt und die dichte Atmosphäre so zu schätzen wissen, dass ihn das reduzierte Gameplay und die kurze Spielzeit nicht stören.

Publisher/Entwickler: The Astronauts | Plattform: PC / PS4
Genre: Exploration / Adventure / Mystery-Thriller / Digitale Erfahrung / Walking-Simulator
Release: September 2014 | Pad Support: ja | Spielzeit: ca. 3-5h | Offizielle Website
Preis: ca. 19 € via GoG (DRM-free) oder auf Steam

8 Antworten auf „Indie-Review: The Vanishing of Ethan Carter“

Ich kann absolut verstehen, dass man bei dieser Spielzeit und einem Preis von 19 € skeptisch ist. Ich persönlich habe einige Stunden mehr damit verbracht, weil ich schon zwei Durchgänge hinter mir habe und eben wirklich sehr gemächlich durch die Welt spaziert bin. Das werden aber nur die wenigsten machen und es ist auch so linear, dass man eigentlich (fast) nichts verpassen kann. Dafür sieht man aber sofort, dass hier wirklich extrem viel Arbeit in die Umgebungen gesteckt wurde.

Dank meiner neuen Regel, Spiele erst einmal zu Ende zu spielen und sich nicht so brutal mit dem Pile of Shame zu verzetteln, habe ich nur ein halbes Stündchen mit Ethan Carter verbracht. Die sind schon ihre 20 € (bzw. 11 € bei anderen Anbietern) absolut wert. Wenn man auf das Drumherum steht, abseits vom Gameplay. Wie du ja geschrieben hast, floss verdammt viel Arbeit, Liebe und Können in die Spielwelt. Es ist ein Gemälde und völlig schnurz, ob die Story nun nach 1,3 oder 5 Stündchen vorbei ist. Aber, natürlich, ist das Geschmackssache.

Es sind (noch) zu viele Spiele…und Ethan Carter möchte ich schon in Ruhe genießen. Und es muss passen. Nachdem ich Sniper Elite 3 überraschender Weise so richtig und gut fand, kämpfe ich noch mit Watch_Dogs…und vorher spiele ich nix richtig. Wie schaut es denn bei dir mit Wasteland 2 aus? Das drängelt ja auch noch bei mir in der Warteschlange rum.

Wasteland hab ich leider noch gar nicht angefangen, weil ich irgendwie gerade nicht so in der Stimmung für so ein Mammutspiel bin. Watch Dogs hab ich seit Monaten(?) nicht mehr weitergespielt, aber das sollte ich wohl auch endlich mal machen. Hab natürlich auch noch viel zu viele Spiele hier, aber das einzige worauf ich gerade extrem viel Lust hätte, wäre ausgerechnet Forza Horizon 2, das ich mangels Xbox One natürlich nicht spielen kann 🙁

Forza Horizon 2? Das überrascht mich jetzt aber! Doch warum nicht? Müsstest dir halt nur so einen doofen, leistungsschwachen Klotz für viel Geld anschaffen! 😉
Watch_Dogs spiele ich auf der PS4, habe es für ein Appel und Ei gebraucht gekauft. Ist und bleibt eine Katastrophe auf dem PC, technisch gesehen. Abseits der Minispiele und dem ganzen Gedöns ist es ganz ordentlich, aber der Hauptcharakter ist ein dermaßen unsympathischer Schwachmat, der seinesgleichen sucht (und nicht findet). Das macht das Spielen manchmal unangenehm…

Kann dir nur zustimmen, hat mir auch gefallen. Sicher stehen da viele Gamer nicht drauf … vor allem die actionverwöhnte Fraktion dürfte hier wenig Freude dran haben. Aber ich empfand es als sehr entspannend. Kann man einen Abend toll mit ausklingen lassen. Es muss nicht immer alles tonnenweise Anspruch haben, knifflig sein und mit viel Action aufwarten.

PS: Forza Horizon 2 lässt mich auch enorm lechzen. Leider fehlt mir dazu die One – genau wie dir. Hatte am Wochenende den Vorgänger im Laufwerk, ist schon ein tolles Rennspiel.

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